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Materialien als Transferangebot

FokusJA ist ein Forschungs- und Transferprojekt. Diese Plattform soll einen Beitrag dazu leisten, die Befunde der drei Teilprojekte zusammenzuführen und für die Praxis möglichst einfach zugänglich und nutzbar zu machen. Neben unseren wissenschaftlichen Ergebnissen stellen wir Ihnen hier daher auch unterschiedliche Materialien, Dokumente und Instrumente zur Verfügung. 
Sexualisierte Gewalt als spezifische Herausforderung für das Jugendamt lässt sich gleichermaßen aus wissenschaftlicher Perspektive und aus der Perspektive der Fachpraxis betrachten. Diese beiden Blickwinkel sind jeweils durch Vor- und Nachteile gekennzeichnet. Als Forschende sehen wir uns daher nicht in der Position, die Praxis anzuleiten und Ihnen als Fachkräften zu sagen, wie Sie Ihre Arbeit besser und professioneller gestalten können. Wir verstehen die Ergebnisse unserer Forschung in erster Linie als eine Art Spiegel, mit dessen Hilfe Sie Ihr fachliches Tun reflektieren und weiterentwickeln können. 

Die Materialien, die wir vor dem Hintergrund unserer Forschung erstellt haben, sollen Impulse für die fachliche Qualifizierung von Jugendämtern im Umgang mit sexualisierter Gewalt bilden. Sie adressieren Elemente und Prozesse, die für die Bearbeitung von Fällen sexualisierter Gewalt von zentraler Bedeutung sind .Je nach Bedarf können Sie die unterschiedlichen Inhalte dieses Portals individuell abrufen, aber auch systematisch in ihrer Gesamtheit zur Qualifizierung und Weiterentwicklung nutzen.

Weiterhin wurden aus dem Projekt heraus Überlegungen entwickelt, welche Kriterien bei der Planung von Fortbildungen zu sexualisierter Gewalt für Mitarbeitende im Jugendamt, insbesondere im ASD, von besonderer Bedeutung sind.
Die Ergebnisse dazu können Sie hier herunterladen.

Expertisen

Im Rahmen des Forschungsprojekts sind fünf Expertisen entstanden, die aus verschiedenen Sichtweisen erörtern, über welches Grundlagenwissen zu sexualisierter Gewalt Mitarbeitende im Jugendamt, insbesondere im ASD, verfügen sollten. Sie wurden von Expert*innen aus dem Bereich der spezialisierten Fachberatung, der Kriminologie, der Täterarbeit, des medizinischen Kinderschutzes und des Kinder- und Jugendrechts. Die Expertisen repräsentieren Bereiche, die für den ASD im Kontext sexualisierte Gewalt wichtige Bezugssysteme darstellen. Mit Hilfe der Expertisen können Sie sich zum einen eine fundierte Wissensgrundlage aneignen. Zum anderen können Sie sich damit für die Gestaltung von Kooperationsbeziehungen qualifizieren. 

Grundlagenwissen über sexualisierte Gewalt für Mitarbeiter*innen im Jugendamt/ASD aus Perspektive spezialisierter Fachberatung

Verfasser*in:
Astrid-Maria Kreyerhoff

Kennzeichnend für die Dynamik sexualisierter Gewalt sind folgende Rahmenbedingungen: sie findet im Verborgenen statt, es gibt so gut wie nie Zeug*innen, die nicht Teil der Dynamik sind. Sie hinterlässt meist keine sichtbaren körperlichen Spuren. Sie wird in den allermeisten Fällen durch Menschen verübt, die Vertrauenspersonen sind oder sein sollen und die in der Regel sichtbar auch fürsorgliche Aspekte zeigen. Die Forschung liefert bisher keine unmittelbar erkennbaren Kriterien in einer Persönlichkeit, die auf eine potenzielle Täterschaft hinweisen. Sexualisierte Gewalt findet immer dann statt, wenn Täter*innen sich durch strukturelle Lücken sicher fühlen.

Merkmale sexualisierter Gewalt sind, dass es sich um eine auch im weitesten Sinne sexuelle Handlung handelt, es einen Alters- und Entwicklungsunterschied zwischen Opfer und Täter*in gibt, physischer und psychischer Zwang ausgeübt werden, dass es sich um einen Vertrauensbruch handelt, dass die Bedürfnisse der Täter*innen befriedigt werden (insbesondere das Bedürfnis nach Macht spielt eine zentrale Rolle). Außerdem herrscht ein Macht- sowie Abhängigkeitsverhältnis und emotionale Abhängigkeit. Darüber hinaus handelt es sich um eine Integritätsverletzung (physisch und psychisch). Ausschlaggebend ist ebenfalls die subjektive Einstufung als „Opfer“ sowie die (nicht vorhandene) Möglichkeit des wissentlichen Einverständnisses. Die Folgen sexuellen Missbrauchs (soziale und kognitive Auffälligkeiten) sind ebenfalls bedeutsam.

Hinweise auf sexualisierte Gewalt sind bereits bekannte sexualisierte Gewalt an einem anderen Familienmitglied oder in anderen Gemeinschaften, Umgang mit Grenzen innerhalb eines Systems, wie respektvoll gehen Personen innerhalb eines Systems miteinander um? Hinweisgebend ist auch eine deutlich erkennbare Hierarchisierung innerhalb der Familie oder eines Systems. Eine sexualisierte Atmosphäre im System sowie die Tabuisierung von Sexualität können ebenfalls Hinweise darstellen.

Für Fachkräfte relevante Grundsätze aus der Traumapädagogik sind erstens die Annahme vom guten Grund: alle Verhaltensweisen und Reaktionen der jungen Menschen haben einen wirklich guten Grund. Diese Haltung ermöglicht Psychoedukation für Kinder und Jugendliche sowie Fachkräfte. Und zweitens die Notwendigkeit eines sicheren Ortes.

Relevantes Wissen für Mitarbeitende im Jugendamt, insbesondere im ASD, basierend auf Erfahrungen aus therapeutischer Gruppen-arbeit mit verurteilten Sexualstraftätern im ambulanten Rahmen

Verfasser*innen:
Cindy Radecki, Stephan Gebers

Ein Verständnis für die individuellen Hintergründe der Taten ist wesentlich für eine zielgerichtete Behandlung und Erarbeitung von persönlichen Rückfallvermeidungsstrategien. Zu differenzieren sind unterschiedliche Tätergruppen: „Kernpädophile“, die sich ausschließlich von kindlichen Körpern angezogen fühlen; von einer „Nebenströmung“ wird gesprochen, wenn auch eine Erregbarkeit durch Erwachsene möglich ist, also keine klare Fixierung auf Kinder vorliegt. Die dritte Tätergruppe sind „Ausweichtäter“: es kann keine sexuelle Präferenz auf Kinder festgestellt werden, die Straftaten basieren auf anderen Faktoren wie beispielsweise einem geringen Selbstwertgefühl, was die Kontaktaufnahme zu anderen erwachsenen Personen verhindert.

Je nach Ausprägungsgrad der sexuellen Devianz gibt es unterschiedliche Implikationen für die Behandlung. Wichtig ist es, den Tätern die Folgen ihrer Taten für die Opfer und auch für sich selbst klar vor Augen zu führen, um die Veränderungsbereitschaft zu erhöhen. Ebenfalls wichtig ist es, zu verstehen, dass die wenigsten Täter „skrupellose Monster“ sind, sie verfügen sogar häufig über ein prosoziales Norm- und Wertesystem. Viele Täter sind nur durch eine ausgeprägte Selbstmanipulation („kognitive Verzerrungen“) zur Tatbegehung in der Lage. Teil der Behandlung ist, die kognitiven Verzerrungen aufzudecken und abzubauen, was häufig dazu führt, dass Täter in der Behandlung starke Reue und Scham entwickeln und über die eigenen Handlungen sehr erschrecken. Die Hemmschwelle, weitere Taten zu begehen, kann dann für die Zukunft erhöht sein.

Es hat sich gezeigt, dass eine fehlende Tagesstruktur das Entstehen bzw. Ausleben deliktrelevanter Fantasien begünstigen kann. Das mit fehlender Tagesstruktur häufig einhergehende Fehlen einer sogenannten „narzisstischen Gratifikation“ (in diesem Zusammenhang gemeint: z. B. Erfolg im Leistungsbereich oder Gefühl, eine sozial/emotional bedeutsame Rolle einzunehmen) kann sich ebenfalls ungünstig auswirken.Die genaue Dokumentation der Teilnahme und die enge Vernetzung der Gruppenleitung mit den Behörden der Justiz führen dazu, dass die Gruppenleitung auch als kontrollierend wahrgenommen wird. Deshalb stellt die Entwicklung einer konstruktiven Behandlungsbeziehung eine besondere Herausforderung dar. Wichtig ist es daher, dass der Teilnehmer selbst die Kontrolle als hilfreich erlebt. Transparente, empathische und nicht verurteilende Beziehungsgestaltung seitens der Leitung sind hierbei hilfreich.

Laden Sie hier die vollständige Expertise herunter.

Welches Wissen und welche Kompetenzen benötigen – aus polizeilicher und strafrechtlicher Sicht – die Mitarbeitenden im Jugendamt, insbesondere im ASD, für einen professionellen Umgang mit sexualisierter Gewalt?

Verfasser*in: Prof. Dr. Anja Schiemann

Es gibt nicht die eine sexualisierte Gewalt, sondern unterschiedliche Schweregrade und Erscheinungsformen. Leichtere Formen sexuellen Missbrauchs sind solche ohne Körperkontakt, also beispielsweise Exhibitionismus oder anzügliche Bemerkungen etc. Als wenig intensive Missbrauchshandlungen gelten Versuche, die Genitalien oder Brust des Kindes/Jugendlichen zu berühren sowie sexualisierte Küsse. Intensiver sexueller Missbrauch liegt vor, wenn die Genitalien berührt oder vorgezeigt werden sowie wenn der Täter vor dem Opfer masturbiert oder umgekehrt das Opfer vor dem Täter. Der intensivste Missbrauch besteht in der versuchten oder beendeten oralen, analen oder vaginalen Vergewaltigung. Diese Differenzierung spiegelt sich ebenfalls im StGB wider. Wichtig für Fachkräfte ist sind Grundkenntnisse über §§ 176 ff. StGB.

Aussagenpsychologisches Wissen sollte ebenfalls vorhanden sein. Man sollte sich beispielsweise des Problems falscher Anschuldigungen bewusst sein und über die Fehleranfälligkeit bestimmter diagnostischer Mittel Bescheid wissen sowie über die Anfälligkeit von Kindern für suggestive Einflüsse.

Fachkräfte sollten folgende altersabhängige Verhaltenssymptome kennen: bei Vorschulkindern insbesondere Ängste, Alpträume, Regressionen und internalisierendes und sexualisiertes Verhalten; im Alter von sieben bis zwölf Jahren Ängste, Alpträume, Schulprobleme, unreifes, hyperaktives oder aggressives Verhalten; im Jugendalter zwischen 13 und 18 Jahren sind Probleme wie Depression, Weglaufen, sozialer Rückzug, Alkohol- oder Drogenmissbrauch bis zu Suizidneigung zu beobachten. Es sollten dennoch keine voreiligen Schlüsse gezogen werden.

Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung sind Offizialdelikte und unterliegen daher dem Legalitätsprinzip (Verfolgungszwang). Im Einzelfall muss abgewogen werden, ob eine Anzeige dem Kindeswohl dient oder hingegen potenziell schadet. Die Verjährungsfrist für sexuellen Missbrauch von Kindern ist gemäß § 78b StGB bis zur Vollendung des 30. Lebensjahrs der Betroffenen. Fachkräfte sollten die Grundzüge von §8a SGB VIII sowie §4 KKG kennen.

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Erforderliche Kenntnisse und Kompetenzen von Mitarbeitenden imJugendamt für einen professionellen Umgang mit sexualisierter Gewalt ausdem Blickwinkel der Erfahrungen aus der Jugendarbeit und verwandter Leistungen

Verfasser*in: Dr. Gabriele Weitzmann

Übertrieben routinierte Distanz im Umgang mit Betroffenen ist nicht förderlich und sollte vermieden werden. Stattdessen sollte ein Mittelweg zwischen vertrauensvollem, empathischem Zugang, Distanz und Sachlichkeit gefunden werden.

Die strafbaren Verhaltensweisen nach §§ 174 ff. StGB sollten allen Fachkräften bekannt sein. Fachkräfte sollten Grundlagenwissen zum Thema sexualisierte Gewalt besitzen sowie Wissen über Täter*innen, Tatorte und Tatstrategien. Sexualstraftäter*innen sind häufig strategisch vorgehende Personen, die über einen längeren Zeitraum Vertrauen und ein Machtverhältnis aufbauen, das dann ausgenutzt wird.

Auffälligkeiten bei betroffenen jungen Menschen sind z. B. Bettnässen, selbst- oder fremdverletzendes Verhalten, Kopf- und Bauchschmerzen ohne physische Ursache, Rückzugsverhalten, aber auch ein ständiges Bemühen um Unauffälligkeit. Diese können, müssen aber nicht auf sexualisierte Gewalt zurückzuführen sein, sie gelten aber als Indizien für eine Belastung, die Unterstützung und Hilfeleistung erfordert.

Es besteht keine allgemeine Pflicht zur Strafanzeige. Die Standards und Empfehlungen nach § 8a SGB VIII müssen bekannt und bei Kindeswohlgefährdung umgesetzt werden. Die Verpflichtungen aus dem KKG sollen beachtet werden, vor allem Informations- und Handlungspflichten, da ihre Vernachlässigung eine Sorgfaltspflichtverletzung darstellt. Fachkräften sollte einerseits bekannt sein, dass für eine Aussage im Regelfall eine Aussagegenehmigung durch die Behördenleitung erforderlich ist und die Fachkraft ohne eine solche Genehmigung disziplinar- oder arbeitsrechtliche Folgen zu befürchten hätte. Sofern die Verpflichtung zur Verschwiegenheit dann nicht mehr besteht, kann in der Regel auch kein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 53 StPO vor Gericht geltend gemacht werden. Hinzu kommt auch, dass die Fachkräfte über Mechanismen und Werkzeuge zur Selbstabsicherung und zum Schutz vor z. B. Verleumdungsvorwürfen kennen und anwenden können.

Zentral sind darüber hinaus die umfassende Dokumentation der Fallbearbeitung sowie Kenntnisse über den professionellen Umgang mit Krisensituationen.

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